"Privilegien, Verfolgung, Vertreibung ...":
Der Anti-Antisemitismus und die Macht der Vorurteile
Erfahrungen eines LehrersVon Wolfgang Geiger
Kommune, Forum
für Politik-Ökonomie-Kultur 5/2004
Antisemitische Vorurteile bei Schülern: Sind die Lehrer
zu mangelhaft für ihre Aufgabe gerüstet? Übertragen sie nur ihre eigenen
Antipathien gegen Juden? Unser Autor zieht sein Fazit aus jahrzehntelanger
Erfahrung: Es existiert ein entscheidendes Defizit bei den Fakten;
deutsch-jüdische Geschichte wird einseitig und verzerrend behandelnd, zu
sehr konzentrieren sich die Lehrbücher auf Verfolgungsgeschichte und
Holocaust, zu sehr erscheinen Juden als Objekte und Opfer deutscher
Geschichte, zu wenig als Träger einer eigenen Kultur und als Mitgestalter
der modernen Welt.
"Es hat in der neueren deutschen Geschichte eine Zeit
gegeben, in der viele gern gesehen hätten, wenn Jesus ein Sachse gewesen
wäre."
Einleitung des Kapitels "Juden im christlichen Abendland" , Rückspiegel
Bd. 2, 1995 (Geschichtslehrwerk für die 8. Klasse)
Schulunterricht als antirassistische "Schutzimpfung"
Als sich 1960 eine vom Verband Deutscher Studentenschaften
organisierte Tagung erstmalig mit der "Darstellung des Judentums in der
Lehrerbildung und im Schulunterricht" befasste, berief sich Ekkehard
Krippendorff einleitend auf Theodor Adornos jüngste und für ihn ungewöhnlich
optimistische Beurteilung der Möglichkeit von "Aufarbeitung der
Vergangenheit" hinsichtlich des Antisemitismus:
"Soweit man ihn [= den Antisemitismus] in den Subjekten
bekämpfen will, sollte man nicht zu viel vom Verweis auf Fakten erwarten,
die sie vielleicht nicht an sich heranlassen, oder als Ausnahmen
neutralisieren. Vielmehr sollte man die Argumentation auf die Subjekte
wenden, zu denen man redete. Ihnen wären die Mechanismen bewusst zu machen,
die in ihnen selbst das Rassevorurteil verursachen. Aufarbeitung der
Vergangenheit als Aufklärung ist wesentlich solche Wendung aufs Subjekt,
Verstärkung von dessen Selbstbewusstsein und damit auch von dessen Selbst.
Sie sollte sich verbinden mit der Kenntnis jener unverwüstlichen
Propagandatricks, die genau auf jene psychologischen Dispositionen
abgestimmt sind, deren Vorhandensein in den Menschen wir unterstellen
müssen. Da diese Tricks starr sind und von begrenzter Zahl, so bereitet es
keine gar zu großen Schwierigkeiten, sie auszukristallisieren, bekannt zu
machen und für eine Art von Schutzimpfung zu verwenden."(1)
Als vierzig Jahre später das Düsseldorfer Attentat
meines Wissens bis heute unaufgeklärt im Milleniumsjahr 2000 die
Öffentlichkeit erschütterte, hatten seit fast drei Jahrzehnten in Schule und
in Öffentlichkeit regelmäßige "Schutzimpfungen" im Sinne Adornos
stattgefunden. Gleichwohl machte man sofort ein Aufklärungsdefizit in der
Schule verantwortlich, die Auseinandersetzung um den Geschichtsunterricht
kulminierte in der unglaublichen Forderung des Bremer Kultusministers und
damaligen Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, die Lehrer sollten in
ihrem Unterricht durch Hospitationen kontrolliert werden. Niemand kam damals
auf die Idee, einen Blick in die von den Kultusbehörden autorisierten
Lehrbücher zu werfen.
Wie ist der derzeitige Stand der "Schutzimpfung" gegen
Antisemitismus im Schulunterricht? Im Vorfeld der Ausstellung "Europas Juden
im Mittelalter", die ab November in Speyer zu sehen ist, wollen wir
nachsehen, wie denn diese Epoche, Angelpunkt der Vorurteilsbildung, im
Unterricht thematisiert wird.
Impfung wogegen? Virus "Geldjuden"
Die Problematik des Umgangs mit der jüdischen Geschichte
ist noch nicht damit gelöst, dass die Lehrbücher einzelne Pflichtthemen, die
sich am Leitmotiv der Verfolgung orientieren, stärker berücksichtigen als
früher. Dahinter wird kaum greifbar, wie Juden in der christlichen Umwelt
über Jahrhunderte wirklich lebten, warum sie "bei uns" lebten und wie sich
ihre Situation im Laufe der Zeit veränderte. Und selbst der (im Rahmen der
Möglichkeiten) aufrichtigste Versuch aufklärerischen Unterrichts sieht sich
oft mit ungewollten Resultaten konfrontiert, denn der Anti-Antisemitismus
scheint kontraproduktiv auch seine eigene Antithese zu bestätigen, nämlich
antisemitische Klischees und Vorurteile, wie im Nachfolgenden gezeigt werden
soll.
So hieß es in einer Schülerarbeit (Lernkontrolle) in
Geschichte Klasse 8 (Gymnasium): "Die Kreuzritter wollten die Juden
umbringen, denn die Juden hatten größere Reichtümer (Geld, Land ...) und
mehr Rechte als die Christen. Die Kreuzritter wollten dem aber ein Ende
bereiten, so kam es zur Judenverfolgung. ... Sie ermordeten kaltblütig
jeden, der nicht den Christen angehörte, sie wollten sich rächen ..." Dies
ist eines von vielen Beispielen, repräsentativ nicht für alle, aber für
viele Schülerinnen und Schüler, aus meiner eigenen Erfahrung als
Geschichtslehrer. Thema war der 1. Kreuzzug, auf dessen Weg gleich zu Beginn
in den rheinischen Städten auch das erste systematische Pogrom an der dort
ansässigen jüdischen Bevölkerung begangen wurde. In Ergänzung des Lehrbuchs
behandelte ich mit meinen Schülern die Vorgeschichte der Verfolgungen, und
zwar beispielhaft die planmäßig durchgeführte Ansiedlung von jüdischen
Kaufleuten in Speyer "zur Mehrung der Ehre der Stadt" durch den Stadtherrn,
Bischof Rüdiger Hutzmann, im Jahre 1085. Die entsprechende Urkunde, eines
der wichtigsten mittelalterlichen Dokumente, sollte den Status der jüdischen
Gemeinde auch bei seinen Nachfolgern garantieren. Doch wer meint, das
sperrige Thema im Unterricht auf diese Weise so einfach in den Griff zu
bekommen, muss sich eines Besseren belehren lassen. Neben Resultaten wie dem
oben genannten kam es dabei auch zu folgender Eintragung eines Schülers in
sein Geschichte-Hausheft: "Der Bischof meint, dass er den Juden zu gute
Lebensbedingungen gegeben hat." Das kleine Wörtchen "zu" reicht, um das
Ganze in sein Gegenteil zu verkehren ...
Was steht aber im Lehrbuch? Es erwähnt die antijüdischen
Pogrome 1096 in den rheinischen Städten, erklärt aber an dieser Stelle
nicht, wie die jüdischen Gemeinden entstanden waren: "Dort gab es reiche
Judengemeinden, die bisher im Frieden mit den christlichen Bürgern gelebt
hatten und den Schutz der Kaiser und Bischöfe genossen. Die Kreuzfahrer
dagegen sahen in den Juden die Mörder des Heilandes Jesus. Sie überfielen
sie auf offener Straße und schlugen sie tot ..." (Anno 2, S. 35). Was
hier mit der Insistenz auf den Schutz durch Kaiser und Bischöfe wohl dem
Leser vermittelt werden soll, wird durch dessen im selben Atemzug erzählte
Wirkungslosigkeit ad absurdum geführt, die Motive der "Beschützer" bleiben
ungenannt, nicht aber die Motive der Judenfeinde, und zwar die direkten:
Juden als "Mörder des Heilandes Jesus", wie die indirekten: "reiche
Judengemeinden". Die Schülerreaktionen zeigen, dass es nicht so einfach
möglich ist kontextlos von "reichen Juden" zu sprechen ohne sofort das
antisemitische Klischee zu reproduzieren.
Die winzigen jüdischen Gemeinden des frühen Mittelalters
wie im Beispiel Speyers gingen vorwiegend auf seit der Karolingerzeit
gezielt angeworbene Händler zurück, die dafür die "green card" des
Mittelalters bekamen: das Privileg einen Fernhandel aufzubauen und dafür
weitgehend nach eigenen religiösen und kulturellen Gesetzen leben zu dürfen.
Doch "Privileg" steht in unserem modernen Verständnis synonym für moralisch
unberechtigtes Vorrecht; wenn Privilegien und Juden ohne historische
Begriffsklärung zusammentreffen, ist der Teufelskreis des Vorurteils bereits
wieder geschlossen, obwohl er aufgebrochen werden sollte. So heißt
fatalerweise im Oberstufenwerk Geschichte und Geschehen eine
Randüberschrift zum Thema Juden: "Privilegien, Verfolgung, Vertreibung" (S.
169). Doch Privilegien waren nur mittelalterliche Lizenzen für alle
möglichen wirtschaftlichen Betätigungen.
Das universelle Rudiment aller Kenntnisse über die
jüdische Vergangenheit, das viele Schüler schon internalisiert haben, noch
bevor das Thema im Geschichtsunterricht angesprochen wird, ist, dass die
Juden Geldverleiher wurden, weil den Katholiken das Zinsnehmen verboten war.
Das didaktische Rudiment fachwissenschaftlicher Erklärung lautet in unserem
Buch so: "Im frühen Mittelalter waren sie als Fernhändler unentbehrlich.
Zunehmend wurden sie jedoch von christlichen Kaufleuten aus dem Warenhandel
in das Geld- und Pfandleihgeschäft abgedrängt. Oft nahmen sie sehr hohe
Zinsen um ihr Risiko abzusichern und die Steuern entrichten zu können, die
Könige und Fürsten zu ihrem Schutz forderten. Für viele Christen waren ihre
Schulden bei den Juden erdrückend. Der Reichtum weckte Neid und Hass. ..."
(S. 100) Man beachte auch hier die "logische" Entwicklung: Erst wurden die
Christen von den Juden abhängig, dann bei ihnen verschuldet ... schon bei
der Quantifizierung "viele Christen" schlägt jedoch der Versuch der
Erklärung in eine klischeehafte Konfrontation zum "Geldjuden" um.
Die notwendige didaktische Reduktion des Stoffes in
Lehrbuch und Unterricht birgt immer die Gefahr der Verfälschung durch
Verkürzung. Dies droht durchgängig beim Thema Wucher und Schulden; kaum ein
Lehrwerk ordnet den Geldverleih durch die Juden in eine allgemeine
Darstellung des Kreditwesens ein. Lediglich in dem Themenheft Jüdisches
Leben in christlicher Umwelt wird zum Beispiel der Historiker Ben-Sasson
über die Situation nach der Vertreibung der Juden im 14. Jahrhundert
zitiert: "Tatsache war, dass die wenigen in der Stadt verbliebenen
christlichen Geldverleiher, der jüdischen Konkurrenz ledig, weit
schonungsloser mit ihren Schuldnern verfuhren." (S. 46). Entsprechend
geißelte 1494 Sebastian Brant in seinem Narrenschiff auch die christlichen
Wucherer: "Der Juden Zins war leidlich genug,/ Aber sie können nicht mehr
bleiben,/ Die Christenjuden sie vertreiben,/ Die mit dem Judenspieß selbst
rennen."(2)
Die neuere und neueste Schulbuchgeneration bemüht sich
gewiss um eine hermeneutische Identifizierung mit den Juden, das heißt um
ein Sich-hinein-Versetzen in deren Lage, doch finden sich kaum die dafür
notwendigen kontextuellen Erklärungen. Die vorgebrachten rationalen
Argumente zur Erklärung des "Wuchers": Das Risiko, die Rarität des Geldes
oder die stereotype Erklärung mit den Schutzgeldern und Steuern, die die
Juden zahlen mussten ..., reichen nicht aus, um die Verknüpfung zwischen
Zinshöhe, Verschuldung und Schuld im moralischen Urteil aufzubrechen, jeder
Leser wird sofort ein Verständnis auch für die Lage der dadurch in Not
geratenen Schuldner empfinden: Verschuldung der einen Schuld der anderen,
wenn auch ungewollt. Auf diese Weise entstehen dann selbst beim besten
Willen zum Verständnis der jüdischen Seite bei den Schülern Formulierungen
wie die oben zitierte: "... man wollte sich rächen."
Eine sinnvolle Erklärung kann daher nur durch eine
differenzierte Einbettung in die sozioökonomische Gesamtsituation erfolgen.
Wofür wurden Kredite aufgenommen? Wir müssen uns dabei von unseren heutigen
Vorstellungen lösen. Als sich die Geldwirtschaft erst wieder richtig
entwickelte, handelte es sich zunächst nur um kurzfristige Anleihen: Wer
durch eine Handelstransaktion Gewinnspannen von 100 Prozent und mehr
erzielen konnte, konnte wohl zur Finanzierung einen Zinssatz von 33 Prozent
und mehr entrichten. Der Kreditgeber war hier fast so etwas wie ein
Beteiligter am Geschäft, und genau diese Idee setzten die christlichen
Bankiers zur Umgehung des kirchlichen Zinsverbots um. Die Beteiligungsidee
entsprach der damals jüngsten Innovation im Handelwesen, die zunächst im
mediterranen Fernhandel von der damals führenden Stadt Genua entwickelt
wurde: Kommanditäre (von ital. commenda) waren als Kapitalgeber zu 25 bis 50
Prozent am Unternehmen beteiligt, wie ein überlieferter Kontrakt von 1163
für eine Handelstour von Genua ins arabische Tunis belegt, deren Gewinn zur
Hälfte geteilt wurde.(3) Dieses Prinzip breitete sich zumindest auch im
süddeutschen Raum aus: "Aus gelegentlichen Personalgesellschaften mehrerer
Kaufleute für bestimmte Unternehmen wurden Kapitalgesellschaften auf der
Grundlage des Commenda-Vertrags (Kapitaleinlage ohne persönliche Mitarbeit),
die ein reines Kapitalrenteneinkommen gewährten. ... Das Geldgeschäft wurde
von großen (Familien-)Gesellschaften wie den Fuggern monopolistisch
organisiert und ermöglichte die Zusammenballung großer Vermögen, die wieder
zum Erwerb genutzt wurden. Kapital und Firma wurden selbständig."(4)
Auch von jüdischer Seite wurde diese Idee aufgegriffen, so beschloss eine
jüdische "Synode" in Mainz 1220: "Man darf nur dann Geld verleihen, falls
man am Geschäft des Leihenden auf Gewinn und Verlust zur Hälfte beteiligt
wird."(5) Wenn die Forderung nach 50 Prozent
Beteiligung zunächst sehr hoch erscheint, so ist doch der entscheidende
Punkt die entsprechende Beteiligung am Risiko. Freilich blieb es beim Wunsch
nach solch einer "jüdischen Commenda", denn diese Form der Integration durch
Gleichberechtigung war in der christlichen Gesellschaft nicht erwünscht.
Übrigens wurde und wird in strenggläubigen islamischen Ländern heute noch
das Zinsgeschäft als Unternehmensbeteiligung kaschiert.(6)
Juden wurden wie Christen zu Geldverleihern dadurch, dass
sie im frühen Mittelalter selbst als Kaufleute sowie als Geldwechsler auf
Märkten und Messen Kapital erworben hatten. Als durch die Lockerung des
Zinsverbots beziehungsweise durch dessen Umgehung die Italiener im
Finanzwesen führend wurden, und dieses sich schließlich überall durchsetzte,
entstand als fatale Folge auf längere Sicht das Phänomen, dass nicht
kreditwürdige Kunden in den Augen christlicher Bankiers, also eher die
kleinen Leute, die nicht über die Runden kamen, "zum Juden" gehen mussten
und daraus ein Verschuldungs- und Verelendungsprozess mit sozialer Brisanz
entstehen konnte. Im Übrigen war die Handelstätigkeit von Juden noch im 12.
Jahrhundert uneingeschränkt und die Pfandleihe nur eine ihrer beruflichen
Betätigungen. Auch nach der zunehmenden Ausgrenzung aus der Gesellschaft
blieben noch andere Tätigkeiten wie die des Trödlers und Kleinhändlers auf
Märkten und so weiter, außerdem sicherten die mit Tätigkeiten außerhalb der
jüdischen Gemeinde erzielten Einkommen wiederum das Einkommen für alle
handwerklichen Berufe innerhalb der Gemeinde, deren Mitglieder nach
Einrichtung der Gettos übrigens zumeist in bescheidenen, wenn nicht
ärmlichen Verhältnissen lebten.
"Geldverleih" oder "Kreditwesen"?
Juden waren also nicht nur Geldverleiher und nicht alle
Geldverleiher waren Juden. Diese einfache historische Wahrheit hat es auch
heute noch schwer, zur Geltung zu kommen. Eine differenzierte Betrachtung
der jüdischen Lebenswelt findet sich in den Lehrwerken, wenn überhaupt, dann
nur für das frühe Mittelalter; mit der Einschränkung der beruflichen
Freiheiten durch Zünfte und Gilden und der schrittweisen gesellschaftlichen
Ausgrenzung seit dem 12./13. Jahrhundert drängt sich schon fast von selbst
die Vorstellung auf, die Juden hätten nur noch im Geldgeschäft ihre
existenzielle Nische gefunden. So verfestigt sich nolens volens das
Vorurteil vom "Geldjuden" als solches, trotz der obligatorischen
Verurteilung der antijüdischen Gewalttaten, trotz deren materialistischer
Erklärung (durch das Sündenbock-Schema usw.). Als ich in einer 9. Klasse die
Entstehung der Französischen Revolution behandelte, zeigte ich unter anderem
eine bekannte Karikatur aus der Zeit, die die leeren Kassen des
französischen Königs dadurch erklärte, dass ein Mönch (oder jedenfalls ein
Kleriker) und ein Adliger Säcke voll Geld wegschleppten. Die Schüler sollten
dies aus der Darstellung selbst erkennen. Während der Geistliche schnell an
seiner Kutte erkannt wurde, war die erste Reaktion einer Schülerin auf die
andere Figur: "Das ist ein Jude." Das war gar nicht böse gemeint, im
Gegenteil, sie wollte hier einen Aspekt von Antisemitismus in der Karikatur
aufzeigen, den es dort gar nicht gab. Das aufklärerische Schuldbewusstsein
des Anti-Antisemitismus reproduzierte hier ungewollt nicht nur das "normale"
Klischee, sondern das Vorurteil quasi auf der Meta-Ebene als Vorstellung der
Vorstellung, die die Leute vermeintlich haben mussten: Wer reich ist, weil
er stiehlt, muss Jude sein.
Vom Klischee des "Geldjuden" ist es nur ein Schritt zur
Nazi-Parole vom "internationalen Finanzjudentum". In Wirklichkeit hatte das
katholische Zinsverbot ja nur anfänglich eine Bedeutung, wenn überhaupt; die
Insistenz auf das Zinsverbot und die reduktive Erklärung des sozialen
Antijudaismus mit der Zins- und Verschuldungsproblematik im Geschichts-,
Sozialkunde oder Religions-/Ethikunterricht suggeriert zwangsläufig, das
Geldwesen sei überhaupt "in jüdischer Hand" gewesen (das
"Rothschild-Syndrom"). So heißt es zum Beispiel in Wir machen Geschichte,
wo über Seiten der Leidensweg der mittelalterlichen Juden aufgezeigt wird,
über den von Friedrich II. verliehenen Status der "Kammerknechtschaft" für
die Juden: "Da mit der Kammer das kaiserliche Schatzamt gemeint war,
bedeutete dies, dass Juden als unfreie Finanzobjekte des Reiches betrachtet
wurden, die vor allen Dingen hohe Steuern zahlen mussten. Um diese
aufbringen zu können wurden die Juden noch mehr als früher und schließlich
gänzlich zu Geldverleihern." (S. 134) Hier kehrt sich die "politische
Korrektheit" in ihr Gegenteil um, denn im Versuch, die vorurteilsbehaftete
Tätigkeit durch eine historische Erklärung aufzulösen die Juden waren
nicht freiwillig Geldverleiher, sie wurden zwangsweise dazu wird das
Vorurteil in seinem historisch falschen Kern bestätigt: Alle Juden wurden
"gänzlich zu Geldverleihern". In Weltgeschichte im Aufriss wird der
Historiker Battenberg zitiert: "Dies alles musste schließlich zu einer
weiteren Vorurteilsbildung gegenüber den Juden führen: Da diese den Christen
in aller Regel nur noch als Geldgeber gegenübertraten, verfestigte sich das
negativ besetzte Bild der Christen von den Juden."(7)
Formulierungen wie "dies musste zu Vorurteilen führen" sind wenn auch
ungewollt semantisch und dadurch pädagogisch katastrophal. Vor allem aber
vollzieht sich auch der Umkehrschluss fast ganz von selbst: Wenn alle Juden
Geldverleiher waren, waren dann nicht alle Geldverleiher Juden ...?
Doch das Bild des Geldjuden ist nicht deswegen ein
Vorurteil, weil es zu beklagenswerten Gewalttaten führte, sondern weil es
historisch falsch ist. Wie sah es zum Beispiel dort aus, woher die
Rothschilds kamen, in der Frankfurter Judengasse? Zu Lebzeiten des
Stammvaters Meyer Amschel Rothschild, Ende des 18. Jahrhunderts, "war die
Erwerbstätigkeit der Juden auf das Wechsel- und Pfandleihgeschäft und den
Kleinhandel beschränkt. Die Mehrheit war arm und lebte vom Trödelhandel, von
der Pfandleihe und vom Wechselgeschäft, das insbesondere während der Messen
blühte. Einzelne Familien hatten es im Geldgeschäft zu erheblichem Wohlstand
gebracht" (8) aber eben nur einzelne, wie die
Rothschilds. Dass die Juden ihrer Abdrängung in Pfandleihe und Geldgeschäft
nach der Privilegierung der christlichen Korporationen (Zünfte und Gilden)
erfolgreich entgegenwirken und ökonomische Nischen bewahren beziehungsweise
sogar wieder erobern konnten, zeigt die vom Museum Judengasse in Frankfurt
zusammengestellte Internet-Datenbank, wo sich eine Liste von 43 Berufen mit
detaillierten Angaben findet (www.judengasse.de).
Etliche der dort aufgelisteten Berufe belegen die fortgesetzten
wirtschaftlichen Beziehungen des Gettos zur christlichen Umwelt unabhängig
von Finanzgeschäften. Für die Spätzeit des "Mittelalters" aus jüdischer
Sicht (d. h. vor der Emanzipation), nämlich das 18. Jahrhundert, erwähnt
dann auch Weltgeschichte im Aufriss "die breite pauperisierte Masse
des so genannten Betteljudentums (vor allem kleine Hausierer) ..., die
aufgrund fehlenden Vermögens den landesherrlichen Schutz nicht bezahlen
konnte und daher ständig von Ausweisung bedroht war. Sie machten um 1780
etwa 90 Prozent des deutschen Judentums aus ..." (S. 331).
Mit der Internationalisierung und Intensivierung des
Handels im Mittelalter entstand die Notwendigkeit einer modernen
Geldwirtschaft, an der auch die Christen nicht vorbeikonnten. So erhielten
zunächst die Mailänder Kaufleute ein entsprechendes Privileg und gründeten
in ganz Europa Filialen ihrer lombardischen Banken, wenig später folgten die
toskanischen Städte und bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts
wurde der Florentiner Gulden zur ersten Leitwährung des Abendlandes, Venedig
wurde im 14. Jahrhundert zum Tor in die Levante. Dennoch bleibt eine
singuläre Verknüpfung "Juden Geld Abneigung" bestehen, denn sowohl
inhaltlich wie sprachlich besteht in der Darstellung ein Unterschied
zwischen dem negativ besetzten "Geldverleih" hinsichtlich der Juden und dem
positiv besetzten "Kreditwesen" hinsichtlich der italienischen Bankiers. So
heißt es in Geschichte und Geschehen: "Um bei den weiten Handelswegen
lange Zahlungsfristen und Lieferungsverzögerungen zu vermeiden, gingen die
Kaufleute zur Vorfinanzierung, d. h. zur Verpfändung künftiger Einnahmen
über. Sie räumten Kredite ein, stellten Schecks aus ... Neben den
wagemutigen italienischen Handelsherren traten ebenso risikofreudige
Bankiers. ... Mit ihren Handelsverbindungen fanden gewinnbringende
Geschäftspraktiken und neue Bezeichnungen im Geldwesen den Weg nach Norden
über die Alpen." (S. 197) Dabei hatte es jedoch im 15. Jahrhundert innerhalb
der Hanse einen regelrechten Kampf gegen die lombardischen Banken und den
von ihnen eingeführten "Borgkauf" gegeben, was zur Schließung etlicher
Bankfilialen in Norddeutschland führte, und das, obwohl oder vielleicht
gerade weil "der Gebrauch des Kredits ... in der hansischen Welt seit dem
13. Jahrhundert weit verbreitet" war.(9)
Virus "Absonderung"
Zu den klassischen antisemitischen Vorurteilen gehört auch
das der gewollten Absonderung der Juden. So heißt es im Rückspiegel:
"Den Menschen des Mittelalters war der Jude Jesus kein Problem, wohl aber
ihre jüdischen Zeitgenossen. Das fast geschlossen christliche Abendland,
das fremde Völker, wenn sie Christen wurden, durchaus aufnehmen konnte,
hatte große Probleme mit den Juden, die ihre Andersartigkeit beibehalten
wollten. ... Besonders die Frommen unter ihnen hielten die Taufe sogar für
einen Verstoß gegen das göttliche Gesetz (hebräisch Thora). Durch ihre
Ablehnung der Taufe wurden sie zu einer gesellschaftlichen Minderheit." (S.
91f.) Natürlich werden auch in diesem Lehrbuch, das sein Kapitel "Juden im
christlichen Abendland" mit dem eingangs zitierten denkwürdigen Satz
beginnt, antisemitische Vorurteile und Judenverfolgungen verurteilt.
Gleichzeitig wird jedoch massiv der Eindruck vermittelt, die Juden seien an
ihrer Lage selbst schuld oder zumindest mitschuldig gewesen nicht an ihrer
Verfolgung, aber an ihrem Ausgestoßensein, das dann die Verfolgungen nach
sich zog. Die Relativierung der Schuld durch deren Aufteilung auf Verfolgte
und Verfolger zeigt sich noch einmal am Schluss: "Die Behandlung der Juden
im christlichen Abendland während des Mittelalters gehört zu den
Schattenseiten Europas", heißt es dort, aber "für das christlich geprägte
Mittelalter gilt, dass das Judentum ein Fremdkörper blieb, obwohl ohne
Judentum das Christentum nicht existieren würde" (S. 93). Schon die Vokabel
"Fremdkörper" ist semantisch ganz eindeutig nicht eine Anklage gegen die
Christen, sondern ein Vorwurf an die Juden.
Unter der Zwischenüberschrift "Die Religionen grenzen sich
ab" wird in Wir machen Geschichte eine Gleichwertigkeit zwischen der
Ausgrenzung durch die Kirche (4. Lateranisches Konzil 1215:
Kennzeichnungspflicht für Juden durch einen gelben Fleck o. Ä.) und einer
Selbstabgrenzung durch die Juden hergestellt: "Auf drei Synoden zwischen
1208 und 1223 verboten Rabbiner persönliche Kontakte mit Christen, ja selbst
Anpassungen an die nicht-jüdische Haar- und Barttracht" (S. 133).
Tatsächlich gab es innerhalb der jüdischen Gemeinden und zwischen den als
Autoritäten geltenden Rabbinern stets Kontroversen über den Grad der
Anpassung an die Umwelt, wobei sich Traditionalisten und Pragmatiker von
Anfang an gegenüberstanden. Nach den ersten Verfolgungserfahrungen sowie
Tendenzen zur Auflösung des inneren Zusammenhalts, die so weit gingen, dass
christliche Autoritäten (Kaiser, Bischof) zur Lösung innerjüdischer
Streitfälle und für persönliche Karrieren angerufen wurden (ganz abgesehen
von Übertritten zum Christentum, die sowohl Christen wie Juden
Kopfzerbrechen bereiteten), erhielten Rückbesinnung auf die Tradition und
Abgrenzung sicherlich enormen Auftrieb. Gleichwohl ist es falsch, dies zu
einem "Kontaktverbot" mit Christen hoch zu stilisieren, das zwar für die
Christen letztlich möglich, für die Juden jedoch unmöglich gewesen wäre und
als Begriff schon Assoziationen zum Getto hervorruft. Resultate solcher
Parallelisierungen sind dann nicht von ungefähr Schlussfolgerungen wie jene
in einer freien Schülerrecherche zum Thema Getto (8. Kl.): "Die Entstehung
der frühen Gettos ist sowohl auf die Intoleranz der Christen als auch auf
den Wunsch der Juden zurückzuführen, gemeinsam und abgeschlossen zu leben."
Dass dies als wörtliches Zitat von der entsprechenden Seite von www.shoa.de
übernommen wurde, macht es leider auch nicht besser ...
Worum ging es aber den in Mainz 1220 versammelten
Rabbinern? "Einmütig haben wir verordnet und unterzeichnet, es gehe kein
Jude in nichtjüdischen Gewändern, er trage keine durchlöcherten Schnürärmel,
er habe auch keine fremde Haartracht und schere nicht den Bart." Eine
äußerliche Abgrenzung, die gewiss an die Bestimmungen des 4. Lateranischen
Konzils erinnert, doch dort endet auch schon die Parallele. Weitere
Bestimmungen betreffen vielmehr den Umgang mit den Christen, nicht dessen
Verbot; so legte die zweite jüdische Mainzer Synode von 1223 größten Wert
auf Redlichkeit, indem sie zum Beispiel "verordnete, dass sich Juden
keinerlei Unehrlichkeit gegen Christen und keine Münzfälschung zu Schulden
kommen lassen sollten."(10) Außerdem wurde bei
Finanzgeschäften die oben genannte Risikobeteiligung nach dem
Commenda-Prinzip zur Richtlinie gemacht (ohne realisiert werden zu können).
Zum Thema Abgrenzung von den Christen lässt sich zusammenfassend
feststellen: Alles in allem "ging man so weit, dass man die
Kontaktmöglichkeiten Einzelner mit Christen auf das Notwendige beschränkte"
(11), dies stellte aber kein Kontaktverbot dar,
wie es zur gleichen Zeit der katholischen Kirche vorschwebte, freilich
ebenfalls ohne Chancen auf Realisierung.
Schuld und Kompensation: "... Juden und Christen: Miteinander leben"
Das Grundproblem der Behandlung jüdischer Geschichte im
Unterricht ist das Verfolgungsparadigma. Trotz der Pogrome des ersten
Kreuzzugs muss man jedoch zwischen einer Periode sporadischer Verfolgungen
bis zum Ende des 13. Jahrhunderts und einer anschließenden Periode massiver
systematischer Verfolgungen unterscheiden, auf die erst als dritte Phase die
Bildung der Gettos im eigentlichen Sinne erfolgte (12):
Die 146062 errichtete Frankfurter Judengasse (13)
kann als das erste Getto in Deutschland gelten, das heißt als ummauerter und
nachts sowie an christlichen Feiertagen durch Tore verschlossener Bezirk
außerhalb oder am Rande der Stadt, und vielleicht als erstes Getto
überhaupt, denn es entstand noch etliche Zeit vor dem später namensgebenden
Viertel Ghetto nuovo in Venedig (1516).
Da jedoch im schuldbewussten Rückblick das Mittelalter
seit dem 1. Kreuzzug 1096 in seiner Ganzheit vom Verfolgungsaspekt
verdunkelt wird, gibt es Versuche, diesen christlich-europäischen
"Sündenfall" durch die Konstruktion eines "goldenen Zeitalters der Juden" in
der vorangehenden Ära des frühen Mittelalters zu kompensieren, im Sinne von:
Es muss ja irgendwann auch einmal "normale" Verhältnisse gegeben haben! In
Wir machen Geschichte und Forum Geschichte wird dazu als
Quelle ein persischer Bericht von 850 über die "Radaniten" genannten
jüdischen Fernhändler gebracht, die einen Handelsverkehr zwischen Europa,
Byzanz und Orient unterhielten; darin heißt es bezüglich der Waren, die sie
von Westen nach Osten lieferten: "Sie bringen aus dem Abendland Eunuchen,
Sklavinnen, Knaben, Seide, Pelzwerk und Schwerter" (S. 126 bzw. S. 93). In
einem ebenfalls abgedruckten Text des Bischofs Agobard von Lyon (826) heißt
es ergänzend dazu: "Wir haben den Christen gepredigt, sie sollten den Juden
keine christlichen Sklaven verkaufen" (Wir machen Geschichte, S.
126). Im Oberstufenwerk Grundriss der Geschichte 1, das freilich bereits
einer jetzt auszumusternden Generation von Lehrbüchern angehört (verfasst
1989), heißt es ähnlich über das frühe Mittelalter: "Die Fernhändler im
nördlichen Teil Europas waren freilich in der Regel keine Einheimischen,
sondern die in diesem Gewerbe schon seit der Spätantike tätigen Juden. Im
Austausch gegen Luxusgüter der Muslime trieben sie mit Zentraleuropa einen
blühenden Handel mit Sklaven meist slawischer Herkunft" (S. 139).
Man kann sich vorstellen, welche Wirkung die Auflistung
dieser Waren (Eunuchen, Sklav(inn)en, Knaben!) beim Leser, zumal bei
Schülern, hervorrufen muss, und es ist daher kein Zufall, dass die
antisemitische Propaganda zum Beispiel im Internet auch diese Quelle in
ihrem Sinne instrumentalisiert. Dabei geht es in erster Linie nicht einmal
um die Frage nach dem Wahrheitsgehalt äußerst zweifelhaft ist, ob die
Radaniten Seide vom Abendland ins Morgenland brachten , sondern um den
Kontext: Was hieß im Mittelalter Sklaverei? Was für Sklaven gab es und was
für einen Sklavenhandel überhaupt? Wird dies nur im Zusammenhang mit dem
"goldenen Zeitalter der Juden im Abendland" (so die Überschrift im Buch) zur
Sprache gebracht, schließt sich schnell der Zirkel zurück vom Urteil zum
Vorurteil. Verbunden mit dem Thema der späteren Verfolgungen entsteht der
Eindruck, dass die Juden durch einen aus heutiger Sicht unmoralischen
Fernhandel reich wurden, um sich dann, wenn auch gezwungenermaßen, auf den
Beruf des "Schacherers" und "Wucherers" zu spezialisieren. Statt das
Verfolgungsthema zu entlasten, wie es wohl die Absicht der Autoren war, um
zu zeigen, dass es auch eine Zeit der "Normalität" gegeben habe, wird das
Verfolgungsparadigma erst richtig abgerundet, denn auch in der
antisemitischen Lesart war die Verfolgung nur die Reaktion darauf, dass es
den Juden gut "zu gut" ging auf Grund moralisch verwerflicher Tätigkeit.
In allen Büchern werden Quellentexte antijüdischer
Maßnahmen der Kirche vorgelegt, wenn es sich auch oft auf das berühmte
Konzil von 1215 reduziert. Die Rolle der Kirche in den antijüdischen
Verfolgungen wird ansonsten jedoch minimiert, da der Antijudaismus, wie
gezeigt, allgemein aus den sozialen Konflikten heraus und die Pogrome als
spontane Aktionen des Pöbels erklärt werden, wenn auch das religiöse Motiv
wie zum Beispiel in den Kreuzzügen Erwähnung findet. Jedoch stehen sich
"Christen und Juden" gegenüber, die Kirche als Institution bleibt im
Hintergrund. Das "materialistische" Erklärungsmuster linker Provenienz
schafft es sogar noch, das durch und durch religiöse Motiv auf den Aspekt
der Ausraubung der Juden zurückzuführen: "Furchtbar wirkte sich der
christliche Kreuzzugseifer für die jüdischen Gemeinden aus. Kreuzfahrer
überfielen die Juden in Speyer, Worms, Mainz und Köln. Diese Fanatiker
unterstellten den Juden die Schuld am Tod Jesu. So glaubten sie sich im
Recht, sich an Ort und Stelle an den angeblichen Feinden des Christentums
rächen zu können. Vor allem aber konnten sie mit dem geraubten Besitz ihre
Fahrt zum Heiligen Grab finanzieren." (Geschichte und Geschehen A 2,
S. 140) Die Vokabel "vor allem" setzt den Akzent ...
Unabhängig von einzelnen Verfolgungen ging jedoch
spätestens seit dem 13. Jahrhundert eine antijüdische Dauerpropaganda von
der Kirche aus wenn auch einzelne Päpste und Bischöfe dem
entgegenarbeiteten , weswegen diese mehr ins Zentrum gerückt werden müsste,
die katholische für das ganze Mittelalter, die lutheranische jedoch auch für
die Folgezeit. An ikonographischen Quellen mangelt es dabei nicht, es gibt
zahlreiche allegorische Darstellungen von Ecclesia und Synagoga, zum
Beispiel am Straßburger Münster oder am Bamberger Dom. Die beiden
Frauengestalten repräsentieren als Ecclesia die Kirche als gekrönte
Herrscherin, die Synagoge mit verbundenen Augen jedoch als die Leugnerin des
Evangeliums. Doch gibt es noch weitaus drastischere Verbildlichungen der
Verurteilung des Judentums in und an Kirchen, etwa die Darstellung von
"Judensauen" im 15. Jahrhundert, die den Bogen von der religiösen
Verurteilung zum volkstümlichen Hass schlugen.
Doch der krampfhafte Versuch in vielen Lehrbüchern,
irgendein Miteinander in das Gegeneinander hineinzulesen "Muslime, Juden
und Christen: Miteinander leben" heißt auch das "politisch korrekt"
formulierte Kapitel im Wir machen Geschichte , geht an dieser
Stelle, die Religionen betreffend, an der Wahrheit vorbei und wäre an
anderer Stelle, nämlich in der sozialen Realität des mittelalterlichen
Stadtlebens, angebrachter. So versucht zum Beispiel die pädagogische
Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt anhand von Quellen nahe zu
bringen, wie trotz der periodischen Konflikte, Ausweisungen und sogar
Massaker Juden und Christen tatsächlich "miteinander" lebten, und zwar oft
genug gegen die Mahnungen der Autoritäten, vor allem der Kirche.
Kurze Bilanz des Anti-Antisemitismus
Bei aller Berücksichtigung der Schwierigkeiten, dieses
Thema im Unterricht und in den Lehrbüchern adäquat zu behandeln, wie ich es
ja auch selbst erlebe, und des dabei herrschenden Zwangs zur didaktischen
Reduktion besteht wohl das entscheidende Defizit in einer mangelhaften
Kenntnis der Fakten, auf die es gerade und im Gegensatz zu Adornos eingangs
zitierter Analyse sehr wohl ankommt: Im Wunsch nach Verurteilung der
Vorurteile meinen wir irrtümlicherweise die Geschichte durch diesen Vektor
hindurch ausreichend zu kennen. Hierin liegt das Grundproblem dessen, was
das Leo-Baeck-Institut in seiner letztes Jahr veröffentlichten
Orientierungshilfe für Lehrplan und Schulbucharbeit ebenfalls kritisiert:
"Die deutsch-jüdische Geschichte wird im Schulbereich nach wie vor zumeist
defizitär, einseitig und dadurch auch verzerrend behandelt. ... Noch immer
stehen bei der Berücksichtigung in Lehrplänen und Schulbüchern sowie im
Unterricht von Ausnahmen abgesehen der Antisemitismus, die
Verfolgungsgeschichte und der Holocaust einseitig im Vordergrund. Zwar ist
fortdauerndes Erinnern an die Judenverfolgung und den Zivilisationsbruch des
Holocaust im Unterricht unverzichtbar, doch eine weit gehende Reduzierung
der deutsch-jüdischen Geschichte auf diese Dimension ist didaktisch
verfehlt. Sie lässt Juden vorzugsweise als Objekte und Opfer deutscher
Geschichte erscheinen, nicht jedoch als Träger einer eigenen Kultur und als
Mitgestalter der modernen Welt."(14)
Die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte ist bei uns
durch die Abarbeitung an der deutschen Schuld geprägt und daher
perspektivisch auf den Verfolgungsaspekt verengt. Das Problem des
Anti-Antisemitismus ist er selbst, sein "search and destroy" des
Antisemitismus. Bei allen Unterschieden dominiert die ethisch-moralische
Verurteilung der Gewalttaten als Darstellungs- sowie Lernziel, was natürlich
richtig, aber nicht nur unzureichend ist, sondern auch, wie gezeigt, oft mit
kontraproduktiven Effekten der Perpetuierung von Vorurteilen einhergeht. Das
heißt, es werden Vorurteile zwar verurteilt, aber kaum durch Urteile im
Sinne einer adäquaten historischen Beurteilung ersetzt. Schon die durch das
Schuldbewusstsein produzierte Idee einer ungebrochenen Kontinuität der
Geschichte vom Mittelalter zum 20. Jahrhundert ist problematisch, weil sie
letztlich die Kehrseite dessen ist, was die Nazis auch behauptet haben ("der
ewige Jude"). So stehen zum Beispiel in den Arbeitsblättern für einen
fächerübergreifenden Unterricht Juden in Deutschland Quellen aus
allen Epochen chronologisch ungeordnet beziehungsweise gewollt
anachronistisch nebeneinander, als solche durchaus aussagekräftig, aber
dadurch den Eindruck erweckend, es habe eine Dauerverfolgung vom Mittelalter
bis zur NS-Zeit gegeben, dem der Appell zum Miteinander und Zusammenleben
als moralischer Imperativ gegenübergestellt wird. Dabei verliert sich
zwangsläufig auch die Besonderheit des "modernen" rassenideologisch
begründeten "Exterminismus" (um hier den Begriff von Goldhagen
aufzugreifen), wenn er dem religiös begründeten Antijudaismus des
Mittelalters an die Seite gestellt wird, zumal zwischen beiden ja eine
längere Phase der staatsbürgerlichen Integration lag.
Zweiter Teil:
"Hilflose Aufklärung"?:
Der Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts
Verzeichnis der besprochenen Lehrbücher:
(Auf die Nennung der einzelnen Autoren wurde hier verzichtet)
Anno 2, Westermann 1995
Forum Geschichte 2, Cornelsen 2002
Geschichte und Geschehen (Mittelstufe) A 2, Klett 2002
Geschichte und Geschehen Oberstufe A 1, Klett
Geschichtliche Weltkunde 2, Diesterweg, 1981
Juden in Deutschland, 34 Arbeitsblätter für den fächerübergreifenden
Unterricht Sek. I, Klett 1995
Jüdisches Leben in christlicher Umwelt, Cornelsen 1997
Rückspiegel 2, Schöningh 1995
Weltgeschichte im Aufriss 1 (Oberstufe), Diesterweg 1999
Wir machen Geschichte 2, Diesterweg 1997
Anmerkungen:
(1) Theodor W. Adorno: "Was bedeutet Aufarbeitung der
Vergangenheit?", in: Gesellschaft Staat Erziehung. Blätter für
politische Bildung und Erziehung, Heft 1/1960, zit. n.: Ekkehart
Krippendorf: "Einleitung", in: Erziehungswesen und Judentum. Die Darstellung
des Judentums in der Lehrerbildung und im Schulunterricht, hrsg. vom Verband
Deutscher Studentenschaften (VDS), zusammengestellt von Ekkehart
Krippendorff in Zusammenarbeit mit Dieter Bielenstein, München:
Ner-Tamid-Verlag 1960.
(2) Kapitel "Wucher und Aufkauf", vgl. Sebastian Brant:
Das Narrenschiff, übertragen von H. A. Junghans, überarb. Ausg. Stuttgart:
Reclam 1998. Der "Spieß" war im Vokabular Brants eine der Metaphern der
Narrheit, vielleicht ein Zusammenhang mit "Spießbürger".
(3) Jacques Le Goff: Das Hochmittelalter, Fischer
Weltgeschichte Bd. 11, Frankfurt am Main 1965, S. 50.
(4) Karl Bosl: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im
deutschen Mittelalter, Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 7,
Stuttgart: dtv 1973, S. 213f.
(5) Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der
Juden, Bd. I, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgeswellschaft 1990, ²2000, S.
114f.
(6) Das Zinsverbot geht auf die biblische Tradition zurück
(5. Moses 23) und galt auch innerhalb des Judentums und des Islams. Es wurde
von den jeweiligen Religionsgemeinschaften zunächst im Geschäftsverkehr mit
Partnern anderer Religion zugelassen und im Rahmen des
Säkularisierungsprozesses dann auch innerhalb der eigenen Gemeinschaft, oft
in versteckter Form. Dies gilt auch für die katholische Kirche.
(7) Weltgeschichte im Aufriss, S. 360, vgl.
Battenberg Bd. 1, S. 20.
(8) Rachel Heuberger, Helga Krohn: Hinaus aus dem Ghetto
... Juden in Frankfurt am Main 18001950. Begleitbuch zur ständigen
Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt am
Main: S. Fischer Verlag 1988, S. 13.
(9) Philippe Dollinger: Die Hanse, Stuttgart: Kröner 1976,
S. 267.
(10) Heinrich Graetz: Geschichte der Juden (1875),
Digitale Bibliothek, Bd. 44, Bd. 7, S. 22/DB S. 3183.
(11) Battenberg, a.a.O., S. 115.
(12) Für diese Klarstellung zur Periodisierung danke ich
Martin Liepach vom Jüdischen Museum Frankfurt am Main; siehe auch: Michael
Toch: Die Juden im mittelalterlichen Reich, München: Oldenbourg 1998.
(13) Zur Entstehungs- und Ausgrabungsgeschichte der
Frankfurter Judengasse vgl. Egon Wamers und Markus Grossbach: Die Judengasse
in Frankfurt am Main, hrsg. im Auftrag des Magistrats der Stadt Frankfurt am
Main vom Museum für Vor- und Frühgeschichte der Stadt Frankfurt am Main,
Stuttgart: Thorbecke 2000.
(14) Deutsch-jüdische Geschichte im Unterricht.
Orientierungshilfe für Lehrplan- und Schulbucharbeit sowie Lehrerbildung
Lehrerfortbildung, hrsg. vom Leo-Baeck-Institut/Kommission für die
Verbreitung deutsch-jüdischer Geschichte, präsidiert von Georg Heuberger,
Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Selbstverlag Die
Broschüre ist im Jüdischen Museum oder übers Internet erhältlich (www.juedischesmuseum.de).
hagalil.com / 2005-02-14 |